Die Kastanien sind reif
Durch eine Kastanienallee schlendern, über die vor kurzem ein Sturm gezogen ist: Wer kann sich da der Anziehungskraft der frisch heruntergefallenen, glänzenden braunen Früchtchen entziehen? Wer kann wirklich weitergehen und am Schluss des Weges nicht einige Kastanien in der Manteltasche haben?
Ich bin kraftvoll und energiereich nach einem langen Wochenende in meinem Projektbüro bei der großen Firma angekommen. Sofort reihe ich meine strahlende Beute vor dem Bildschirm auf. Dabei habe ich mir spontan vorgenommen, heute Abend mal früher nach Hause zu gehen und noch einen Spaziergang im Park zu machen, um die erhebende Stimmung vom Morgen noch einmal zu erleben.
Als es Mittag ist, sehe ich vor lauter Arbeit meinen morgendlichen Wunsch dahinschwinden; auch heute wird es wieder spät werden, bis ich heimgehen kann.
Mein Blick fällt auf meine Kastanienreihe. Nur noch an einigen Stellen ist der schöne Glanz vorhanden. Immer noch schön glatt, aber inzwischen stumpf und matt liegen die braunen Kugeln vor mir. Und die Überbleibsel von letzter Woche aus meiner Manteltasche habe ich bereits in den Papierkorb geworfen, weil sie nicht nur stumpf, sondern auch schrumpelig geworden waren.
Tu’s, flehen mich jetzt die Kastanien auf meinem Tisch an. Geh heute noch in den Park! Heute noch kannst du die Freude genießen, die dir die herbstliche Natur schenken will. Die Arbeit wird dich niemals hinaus schicken. Der Posteingang ist magisch, er zieht immer neue Sendungen herein. Bleib du selbst aber der Meister der Magie!
Was du allerdings nicht beeinflussen kannst: Schon morgen könnte die Sonne von Wolken verdeckt sein – und eine Quelle der Freude ist versiegt. Darum: Tu es heute! Erfülle deine Wünsche und genieße ihre Realisierung, jetzt.
Denn ehe du dich versiehst, schwuppdiwupp, könnten wieder fünf Jahre dahin und dein Glanz könnte abgestumpft sein, sagen die Kastanien zu mir und lenken meinen Blick auf ihre ältlichen Schwestern im Papierkorb. Wenn du nicht achtgibst auf die begrenzte Zeit, die du zur Verfügung hast, könnte dein Leben gar verschrumpeln.
aus: Irmgard Rosina Bauer, Das Leben könnte so schwer sein, tredition Verlag Hamburg 2016 (Kurzgeschichtenroman)