Essen in Frankreich

Mein damaliges Frankreich entsprach nicht meinem Frankreichtraum. Der hatte nie aus so viel Essen und Trinken bestanden. Bei aller Gaumenfreude, die ich durchaus schätzen konnte, war mir das stundenlange Sitzen beim Mahl, zumal mit unruhigen Kindern, immer ein Gräuel gewesen.

Erst das sorgfältige Aussuchen des Apéritifs, begleitet von einem kleinen Hors d’Oeuvre.

Dann die warme Vorspeise, häufig aus Fisch bestehend, mit einem passenden Weißen. Anschließend der Hauptgang, immer ein besonderes Fleisch vom lokalen Rind, vom lokalen Huhn, von Lamm, Ziege oder Kaninchen, über das man viele Worte verlieren konnte. Dabei immer mit speziellen Zubereitungsformen gekürt, die selbstverständlich nur mit einem exakt das Geschmackserlebnis vollendenden Roten erobert werden konnten. Gefolgt von einer in der Regel üppigen Käseplatte, bestehend mindestens aus mehreren Briesorten und Camemberts, diversen Käsen mit Rotschmiere, aus Hartkäsen, mindestens einem Bleu und einigen handtellergroßen frischen und trocken-verschimmelten alten Chèvres. Natürlich konnte auch der wohltemperierte Käse sein optimales Aroma erst entfalten, wenn er gemeinsam mit einem passenden samtigen Roten aus der Region genossen wurde.

Kein richtiges Mahl wurde ohne ein Dessert abgeschlossen. Und davon gab es – da war denn auch ich sehr interessiert – die herrlichsten Varianten. Crème brûlée oder Crème Caramel, Flan, Tarte mit Früchten, Profiteroles, eine Himbeer-Charlotte oder eine cremig geschlagene Mousse au chocolat, um nur einige aus der immer üppigen Auswahl zu nennen. Gerne wurde dazu ein weißer Süßwein gereicht. Um dann das Dîner zu vervollständigen mit einem, abhängig von der Region, in der wir uns befanden: Cognac Vieille Réserve oder einem edlen Marc de Bourgogne oder einem klaren Eau de vie. Dieser vorzugsweise aus seltener Frucht gebrannt, wie zum Beispiel der Baie de Houx, Stechpalmbeere.

Ja, wir wurden in unserem Umfeld viel bewundert und beneidet, wenn wir von unseren Frankreicherfahrungen erzählten – und diese Anerkennung war ganz sicher Ursache so mancher Motivationsmomente für mich.

Doch hier stehe ich und kann nicht anders: Essen fasziniert mich nicht mehr.

Nur Sinnvolles ist etwas

Auf meinem Weg ist eine Bank angebracht, auf die ich mich setze. Da liegt er vor mir, die Wälder gegenüber spiegeln sich, links drüben stehen Häuser, rechts drüben höre ich deutlich einen Bach in den See hinein platschen. Auch sehe ich mich angehalten, zwar nicht meine Faulheit, so doch die gerade noch gelobte Naturfreundin in Frage zu stellen: Was war das soeben für ein Laut? Der Schrei eines unbekannten Vogels? Oder das Quaken eines Frosches? Oder die Äußerung einer Kröte? Nur das weiß ich sicher: Die Enten im Englischen Garten klingen anders.

Ich möchte gerne auf dieser Bank einfach nur sitzen, zufrieden sein, ruhig sein, glücklich sein, genießen. Nein, ich fühle mich immer noch getrieben, möchte schrecklich viel erledigen und nur ja meine Zeit für wichtige Dinge nutzen. Verdammt. Ich kann tun, was ich will! Wie schwer das ist! Ich könnte: einfach nichts tun! Ja, das könnte ich! Ich bin frei und kann wieder nach Hause fahren, ohne etwas gemacht zu haben. Und erzähle Freunden und Familie, ich habe nichts gemacht. Bin ich gezwungen, irgendjemandem Rechenschaft über meinen hiesigen Tagesablauf abzulegen?

Niemand würde mir das abnehmen: nichts gemacht. Und was ist überhaupt nichts? Nur Sinnvolles ist etwas.

Wo ich überall gewesen bin, wie toll alles war, wen ich alles kennengelernt habe, welche Seen ich gesehen habe, welche Berge ich bestiegen habe, welche Städte ich besucht habe, welche Museen ich bewundert habe, welche wilden Felsformationen mich beeindruckt haben – möglichst viel erlebt zu haben, unter diesem Druck scheine ich zu stehen.

Die schnelle Gastronomiespülmaschine

Die schnelle Gastronomiespülmaschine in unserer Küche war eine wertvolle Hilfe. Einräumen, Minuten später ausräumen, fertig. Karl-Hubert und ich, beide hatten wir gerne Gäste und waren zu einem eingespielten Team zusammengewachsen. Und ließen keine Gelegenheit zum Feiern in unserem kleinen Reihenhaus in Ismaning aus. Geburtstage, Feiertage, Sonntage, Samstage, oder einfach den Feierabend. Jeder der zahlreichen Bekannten, der auch nur in unsere Nähe kam, wurde ausführlichst und großzügigst bewirtet. Erst mit der Zeit, nach vielleicht zehn Jahren, den immer gleichen Themen um Essen und Trinken und mit der zunehmenden Anzahl von Feierlichkeiten im privaten und im professionellen Bereich, aber naturgemäß auch mit dem Heranwachsen der Kinder, hörte ich Töne der Unzufriedenheit in mir, zunächst leise, dann immer lauter werdend.

Musste es immer ein gestärktes und gebügeltes weißes Tischtuch sein? Mussten es immer Platzteller, Hauptteller, Vorspeisenteller, Dessertteller samt zugehörigem vielfachem Besteck sein? Mussten es immer ein Apéritifglas, ein Weißweinglas, ein Rotweinglas, ein Dessertweinglas und Digestifglas bei jedem unbedeutenden und bedeutenden Besuch sein? Auch eine noch so schnelle Spülmaschine wollte ein- und ausgeräumt werden.

Die Kinder erzogen wir zum Mithelfen in Haushalt und Geschäft. Unreflektiert übernahmen wir das von unseren Eltern. So waren sowohl Karl-Hubert als auch ich erzogen worden: In einer Familie ziehen alle an einem Strang. Doch was war mit ihren schulischen Leistungen? Wie oft gingen sie nach Mitternacht ins Bett, weil wir abends Gäste hatten, die aufwändig bekocht und bedient worden waren. Und morgens um sieben sollten sie fit sein und in der Schule aufmerksam. Ich schien als Einzige zu bemerken, dass das nicht passte. Da war Dominik dreizehn, Markus war elf, Lisa zehn und Raffael sechs. Karl-Hubert wollte feiern, sitzen, kochen, feiern, kochen, sitzen, feiern. Und ich wollte immer mehr: gehört werden.

Auftragsausfall

Und nun auch noch dieser Auftragsausfall.

Der machte mir mächtig Sorgen, ein enormes Umsatzloch würde auf mich zukommen. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt als freie Mitarbeiterin, die unterschiedlichste Unternehmen bei zeitgebundenen Teamprojekten unterstützte. Sie buchten mich mal für ein Jahr, mal für sechs Monate, mal für drei Monate. Reibungslose Übergänge von einem Auftrag zum nächsten ohne Umsatzeinbußen zu schaffen, verstand sich für mich von selbst.

Und nun die nächsten Monate kein Geldeingang!

„Wie willst du denn deine laufenden Kosten bestreiten, Rosi?“, würde meine Mutter wieder einmal fragen. Miete, Versicherungen, Telefon, Auto, Verpflichtungen eben. Wie recht meine Mutter hätte!

„Du bist nun schon über fünfzig! Denk an deine Rentenzahlungen! Du wirst schneller alt, als du denkst!“

Auch damit hat sie recht.

Ein Drache, dieser alles verschlingende Alltag. Verzehrt meine Tage, meine Lebenszeit. Und wirft immer neue, feuerspeiende Köpfe aus. Ich bin ihm ausgeliefert. Sein Opfer. Will ich nicht sein, bin es aber.

Viele schlaflose Nächte hatte ich in letzter Zeit überstanden. Doch dann war auch die Lösung im Schlaf gekommen, und eines Nachts fuhr ich hoch:

Einfach kein Geld ausgeben! Ein Bett ins Auto bauen. Offene Kisten darunter schieben statt geschlossener Koffer. Allein nach Frankreich fahren, wenn Peter nun mal auf die Ferien angewiesen ist – ich bin es nicht. Ist doch ganz einfach!

Von den fantastisch kargen, wilden Landschaften in den Cevennen habe ich Wunderbares gelesen. Dort möchte ich hin, jawohl, ist dieser Auftragsausfall nicht eine riesige Chance?

Angst mal lieber erklären als haben

Angst äußert sich auch in ihren Unterformen Besorgnis, Furcht, Sorgen, Bedrängnis, Anspannung, Aussichtslosigkeit, Blockade … Und alle Formen sind geprägt von Ungewissheit, Unsicherheit, Unklarheit und Ungeklärtem. Wie weit ist sie allgemein menschlich? Wie weit ist sie weiblich? Und wo ist sie mein persönliches Problem?

Im Grunde tun wir unser ganzes Leben nichts anderes als: Angst vermeiden, indem wir uns gar nicht erst in Gefahrensituationen begeben. Betreiben Angstabbau, indem wir uns um Klärung von diffusen Situationen bemühen. Oder aber Angstverdrängung, wenn wir’s nicht klären können. Vielleicht, weil wir uns die Zeit für die Klärung nicht nehmen. Was sich früher oder später wieder als unterschwellige Angst in Form von hinderlichen Blockaden niederschlägt. Die uns sehr lästig sind und die wir dann entweder mit viel Aufwand abzubauen imstande sind – vielleicht brauchen wir dazu die Hilfe eines Psychologen – oder die sich in Form von körperlichen Krankheiten manifestieren, die wiederum unsere Lebensform bestimmen.

Ich stelle mal so für mich die Behauptung auf:

Alles, was wir gern tun würden, aber nicht tun, tun wir deshalb nicht, weil wir Angst vor dem Verändern eines bestehenden Zustandes haben – und sei er noch so unbefriedigend. Dabei hülfe manchmal ein wenig Fantasieankurbelung, indem man sich in die Angstsituation hineindenkt und sich in sein inneres Kino begibt: Was passiert mir, wenn. Was ängstigt mich wirklich. Will ich es vermeiden, oder will ich etwas erleben und Glücksmomente fühlen?

Auf alle Fälle ist sich mit seiner Angst auseinanderzusetzen unbequem. Und zeitintensiv. Fünf Wochen habe ich mir Zeit genommen. Ob das genügt?