Wenn es klingelte
„Dazugelerntes“
Meine Eltern hatten ein Nebengebäude an das bestehende Siedlungshaus angebaut. Vielleicht konnte meine Mutter mit einem Wäscheannahmebetrieb den knappen Arbeiterlohn meines Vaters aufstocken, dachten sie.
Ja, das Geschäft lief an, und wer aus der Familie sich gerade in der Küche oder sonst wo als nächster im Haus aufhielt, lief rüber zur Wäsche, so nannten wir es, wenn mit dem Eintreten von Kunden die automatische Türklingel für uns unüberhörbar ertönte. Trip Trap, Trip Trap, hieß es dann, hinübergelaufen und die Kunden bedienen, die ihre schmutzige Wäsche ablieferten oder sie sauber wieder abholten.
Das Nebengebäude hatte zwei Zimmer, die mit dem bestehenden Haus, in dem wir wohnten, mit mehreren Durchgangszimmern verbunden waren. Also: Ins Wohnhaus kam man durch das Gartentürl und dann bei der Eingangstür herein. Man passierte den Gang, kam in die Küche, die eine Wohnküche mit Ess- und Arbeitstisch war. Darin spielte sich der Alltag in der Familie ab, darin hielt sich Mutter zur Hausarbeit, zum Kochen und mit dem häufigen spontanen Besuch von Freunden auf. Wenn man aus der Küche links abbog, gelangte man durch die abgehende Tür ins Wohnzimmer, in dem ich meine Hausaufgaben machte. Stracks durch dieses Zimmer hindurch lief man zu einer weiteren Tür, hinter der zwei Stufen hinabführten in das Schlafzimmer, das bereits im Nebengebäude lag. Hier hindurch, in derselben Flucht, kam man endlich in das letzte Zimmer in der Reihe, da war die Wäscheannahmestelle untergebracht, in die man als Kunde von rechts außen ein- und austrat.
Kaum waren die Kunden mit einem Klingeln der Tür wieder hinaus, lief Mutter zurück: Von der Wäsche über Schlafzimmer, Wohnzimmer zur Küche oder über Gang und Eingangsbereich weiter hinaus in den Garten, wenn sie gerade dort zu tun hatte.
Freilich war es oft auch meine Aufgabe, Mutter zu vertreten, wenn es in der Wäsche klingelte. Sehr oft, zu oft. So oft, dass ich später noch, als die Wäsche längst wieder aufgegeben war, von diesem Klingelton hässliche Träume hatte. Denn das Klingeln zerriss alle Muße, alle Konzentriertheit bei Hausaufgaben oder Lesen oder Spielen, das Klingeln war allgegenwärtig. Der Laden war schließlich Montag bis Freitag ganztägig geöffnet und am Samstag bis Mittag. Er funktionierte über sein Türklingeln.
Später dann, als ich schon verheiratet war, Kinder hatte und mit meinem Mann zusammen ein Delikatessengeschäft führte, das etwa zehn Minuten zu Fuß von unserem Zuhause gelegen war – wie war ich da oft genervt vom Telefonklingeln bei uns zu Hause. Die damals allerneueste Telefontechnik erlaubte es, Telefonanrufe für den Laden an unser Heimtelefon weiterzuleiten, wenn Mittagspause war oder Abend oder Morgen oder wenn die Verkäuferinnen gerade zu viele Kunden zu bedienen hatten und nicht ans Telefon gehen konnten. Nach viermal Klingeln im Laden läutete es bei mir zu Hause. Der Service am Kunden verlangte, immer erreichbar zu sein.
Wie oft hatte ich hektisch mittags um ein Uhr den Laden abgeschlossen, wenn ich Vormittagsdienst hatte, war nach Hause geeilt, um den Kindern, die aus Schule und Kindergarten nach Hause kamen, ein schnelles Mittagessen zu kochen, um dann, wenn die Verkäuferin ihren freien Tag hatte, am Nachmittag um halb drei den Laden wieder aufzusperren. Das war gerade so zu schaffen, mit Hin- und Rückweg.
Doch wenn dann, während die schnelle Pastasoße auf dem Herd köchelte und die Nudeln abgegossen werden wollten und die Kinder sich gerade in den Haaren hatten oder ich gerade die Windeln des Jüngsten wechselte, wenn dann das Telefon klingelte und ein Kunde eine Bestellung aufgeben oder auch nur wissen wollte, wann wir am Nachmittag wieder öffneten, da fiel es mir sehr schwer, meine Stimme auf sachlich und freundlich umzustellen. Da wäre ich manchmal sehr gerne nicht hingegangen. Doch nein, das ging nicht. Das konnte ich nicht. Das durfte ich nicht. Klingeln hatte Vorrang vor allem Privaten. Da ging man hin. Nichts war wichtiger.
Dagegen ist nichts einzuwenden. So war es eben.
Was mich allerdings später, als wir den Laden nicht mehr in dieser Form betrieben, stutzig werden ließ, war ein Gedankenblitz der Erkenntnis.
Warum nur hatte ich nicht die Kraft, das Telefon einfach klingeln zu lassen?
Warum nur ließ ich keinen Anrufbeantworter installieren?
Warum nur schaltete ich die Rufumleitung nicht einfach ab?
Warum nur ließ ich mich derart nervtötend von unserem Telefon terrorisieren?
Erst später wurde mir die Antwort klar:
Weil das Telefonklingeln dem Klingelton in unserer Heißmangel ähnelte. Das Klingeln war als etwas »Dazugehöriges« in meinem Kindheitsbewusstsein abgespeichert worden und in mein Erwachsenenunterbewusstsein gewandert, und ich ertrug später das Klingeln des Telefons klag-, macht- und hilflos, obwohl es mich unendlich nervte. Ein Muster des Klingelns hatte sich gebildet, nach dem in Zukunft alles ablaufen würde.
Da hatte ich mich bereits jahrelang ärgern, nerven und triezen lassen, ohne auf die Idee zu kommen: Du kannst was dagegen tun. Du brauchst es nur anders zu machen.
Der Klingelton von der »Wäsche« meiner Kindheit hatte mich im Griff. Damals.
Manches Begreifen dauert Jahrzehnte. Heute singt mich Bobby McFerrin über mein Smartphone ganz entspannt an: »Don’t Worry, be Happy«, wenn mich jemand erreichen möchte. Dann gehe ich hin, oder ich gehe nicht hin. Und lege es unter „Dazugelernt“ ab.
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Den Text „Wenn es klingelte“ habe ich aus Das Buch für alle Tage zur Verfügung gestellt.

Wer schreibt hier?
Irmgard Rosina Bauer ist Autorin von Lebens-Reisebüchern und Reiseerzählungen. In ihre Bücher verwebt sie ihre eigenen Lebens- und Reisegeschichten. Sie möchte Frauen Mut im Leben und zum Reisen machen.
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