Was lange währt
Das Buch aufrufen: Das Leben könnte so schwer sein
Liebe Vroni,
da bin ich wieder. Mit der versprochenen Fortsetzung aus meinem letzten Brief. Da hatte ich dir bereits viel erzählt, wie es mir nach meiner Scheidung von Gerhard gegangen war. Die war kein Honiglecken. Und die Zeit danach auch nicht. Einige Fehlversuchen in puncto »Neuer Mann« waren dabei. Fast fünfzehn Jahre sind darüber vergangen. Wie mag es dir, liebe Vroni, inzwischen gehen? Lebst du, nach deiner Scheidung, immer noch so zurückgezogen?
Ich habe für mich damals den Weg einer Psychoanalyse gewählt. Die Entscheidung war nicht einfach für mich. Im Grunde entschloss sich auch nicht ich, sondern meine schlimme psychische Verfassung dafür: Ich war völlig kraftlos geworden, hatte keine Aussicht auf Besserung in meinem Lebensablauf, hatte kein Ziel vor Augen, ich konnte einfach nicht mehr, war ausgebrannt. Ohne meine Kinder – ich fürchte, ich hätte mich aufgegeben.
Und ohne die Therapie wäre ich in der zaghaften Haltung verharrt: »Besser ein bekanntes Unglück als ein unbekanntes Glück.« Erst in vielen Gesprächen und durch das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen konnten sich verhärtete Strukturen, die mir schadeten, lösen.
Sehr häufig musste ich mir aber auch ein weiteres Sprichwort einreden: »Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«. Doch oftmals schmerzte mich das, und ich wunderte mich sehr darüber, wie mir die alte Normalität mit all ihrer Routine fehlte. Wie bei Mose und den Israeliten sehnte ich mich zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, kennst du dieses Bild noch aus dem Religionsunterricht? Zwanzig Jahre eingespielte Gewohnheiten, du weißt ja … Ich hatte erstmal keinerlei Struktur in meinem neuen Leben. Es war kaum auszuhalten.
Die Entwicklung verlief dann so:
Nachdem sich Arnold und ich über eine Single-Seite im Internet kontaktiert hatten, entpuppte er sich für mich als der ideale »Brieffreund«. Wie wunderbar unverbindlich konnten wir per Email offen ansprechen, was uns bewegte! Über unser Leben sinnieren. Sehr persönlich. So konnte ich sogar mit jemandem ausführlich über mein Verständnis von Ehe reflektieren. Er hatte doch dieselben Fragen wie ich und suchte ebenfalls die Antworten dafür.
Wenn mir dann aber unsere Offenheit zu nahe kam, war ich froh, einen Mann angeschrieben zu haben, dessen Postleitzahl mit 2 begann. Weit, weit weg von mir mit der 8, nur keine Nähe … Da brauchte man höchstens mal zu telefonieren, wenn man nachfragen wollte, wie was in der Mail gemeint war.
Arnold ging es anscheinend auch so. Genauso, wie ich es mir vorstellte, agierte er. Er drängte mich niemals. Er pochte nicht auf ein Kennenlernen, nicht auf mehr Emails, auf mehr Telefonieren, auf nichts. So ging es ein halbes Jahr lang.
Er konnte warten, bis ich eine Einladung aussprach: »Besuch mich doch mal, ich gebe am 12. Juli ein lockeres Gartenfest für Freunde und deren Freunde.«
Dies schrieb ich wohl wissend, dass Oldenburg zu weit war, um die Strecke mal eben für ein Gartenfest am Wochenende auf sich zu nehmen. Aber ein wenig mit dem Gedanken spielen … – dieses Fest, so dachte ich mir, wäre im Prinzip eine gute Gelegenheit, sich in ungezwungenem Rahmen zu begutachten, und ab da wieder weiter zu emailen, genauso wie bisher. Ja, du kombinierst richtig: »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!«
In meiner Mail hatte ich diese Gedanken natürlich nicht formuliert. Und Arnold sprang auch gar nicht auf meine Tarnung »lockeres Gartenfest« an, sondern hörte nur »Einladung« heraus. Rief mich an. Da er eine wichtige Arbeit zu Ende bringen müsse, könne er zum 12. Juli nicht kommen. Doch ginge es bei ihm am darauf folgenden Wochenende.
Jetzt wurde mir heiß! Wie kam ich aus dieser Masche wieder raus! Sein Vorschlag entsprach so gar nicht dem, was ich beabsichtigt hatte. Nein, ich wollte es nicht schwierig. So ein persönliches Treffen, für ein ganzes Wochenende, ohne den Schutz der anderen Gäste! Außerdem, wenn er kam, von so weit her, ob das nicht schon wieder Verpflichtung – puh, höflich sein, Essen anbieten, ihn versorgen, der Gast ist König und all das.
Bevor ich zu Ende denken konnte, fuhr er fort:
Ob er denn auch seine drei Töchter mitbringen dürfe, sie müssten dann nur auch irgendwo übernachten, sie alle vier, weil ja der Weg nach Hause so weit war. Das fragte er in einem so hilflosen Tonfall, dass ich in ebenso hilfloses Lachen ausbrach. Ja, er habe mit ihnen an dem Wochenende schon seit langem einen Besuch bei seinen Eltern in Mannheim geplant und sich bis Dienstag freigenommen, verteidigte er sich. In Niedersachsen seien schon Ferien. Und Mannheim sei schon der halbe Weg bis zu mir in den Süden.
Nein, nein, schrie es in mir, locker wollt ich, Gartenfest, ja, aber nicht–
Horror, Panik!
Aber er klang so nett.
Konnte ich wirklich absagen? Das widersprach ja unserer Familientradition. Wir hatten doch ein offenes Haus!
Wenn ich zusagte – wie viel Verantwortung ging ich da ein? Blieb es bei »unverbindlicher Besuch«, wo ich auch hätte sagen können: », ich halte das nicht ein ganzes Wochenende mit dir aus«, oder musste ich aushalten, wegen der Kinder, die man nicht vor den Kopf stoßen will? War mir das nicht zu viel? Doch, das war mir zu viel!
Um all die möglichen Antworten in meinem Kopf zu sortieren, hätte ich jetzt wenigstens zehn Sekunden Gedankenpause aushalten müssen–
doch schon hörte ich mich sagen: Ja, selbstverständlich könnt ihr kommen.
Liebe Vroni, du kennst dieses schöne alte Zauberhäuschen nicht, in dem ich mit meinen Kindern inzwischen in Straßlach wohnte, du warst kurz vor mir von Ismaning weggezogen.
Im Haus hatten wir nicht besonders viel Platz für Besuch, aber es war umgeben von einem wunderbaren großen wilden Garten mit hohen Apfel-, Birnen- und Zwetschgenbäumen, zwei schnuckeligen Schuppen, einem alten Gerätehaus, mit verborgenen Ecken und Winkeln, meine Kinder und ich liebten es über alles – ich lud Arnold also ein, ein Zelt mitzubringen und es bei uns im Garten aufzuschlagen. Ihre ganzen anderen Utensilien würden wir dann schon unterbringen.
»Du kannst gerne zusätzlich unser großes Familienzelt haben, dann habt ihr mehr Platz«, schlug ich ihm vor. Wieder meine Rechnung: Falls er fürchterlich ist, hab ich ihn wenigstens nicht im Haus.
Zum Aufbauen und Vorbereiten allerdings hatte ich keine Lust. Um das auch ganz klar zu machen, sagte ich noch:
»Du baust es halt selber auf.«
Das hatte ich inzwischen gelernt: Übernimm keine Aufgaben mehr, die dir keinen Spaß machen, nur weil es vielleicht und möglicherweise erwartet werden könnte. Und schon wieder erhielt ich Bestätigung für meine neue Linie: Ich hätte mich beim Zeltaufbauen gequält, geopfert – er dagegen sagte ganz einfach:
»Das macht mir riesigen Spaß!«
Traumhaftes Sommerwetter unterstützte uns und ließ unser Treffen ziemlich einfach werden. Dazu half auch, dass seine drei jugendlichen Mädchen in ihren Altersstufen jeweils eine ungefähre Entsprechung fanden im Alter meiner Kids. Und Dominik, mein Großer, hatte ja schon einen Studienplatz in Würzburg angenommen und war nicht da. Unsere Sprösslinge verzogen sich ziemlich schnell gemeinsam auf die Zimmer, so dass Arnold und ich eine gute Zeit allein smalltalken konnten und uns dabei gegenseitig beäugen.
Ach, liebe Vroni, sind wir nicht alle nach so viel Enttäuschung übervorsichtig geworden? Wir passen auf, oh ja. So auch er.
»Von unserem großen Sommerfest letzte Woche sind noch jede Menge Grillwürstchen übrig«, sagte ich. Mein Tonfall war entschuldigend.
Warum eigentlich? Gerhard, du kennst ihn, den großen Gourmet, hat Würstchen als etwas Niedriges empfunden, so was durfte man keinem Gast anbieten! Er hatte immer Steaks besorgt, richtiges Fleisch. Zwanzig Jahre mit einem Partner, das macht was mit uns, das erzieht uns, du weißt das! Immer noch entschuldigte ich mich in Gerhards Namen.
Aber Arnold konnte das nicht wissen. Er freute sich.
»Würstchen esse ich gerne. Du hast da einen Grill stehen. Darf ich ihn anwerfen?«
Oh, das ließ ich ihn gerne machen.
Dabei hatte ich einige Momente Muße, um ihn zu beobachten. Wie ruhig und bedächtig und mit einer stillen Freude er das Holz aus dem Schuppen aussuchte, mit der Axt auf dem alten Holzklotz zurechthackte, wie er später die größeren Holzstücke auf dem Grill nachlegte. Immer mit entspannter Zufriedenheit im Gesicht. Das gefiel mir an ihm. Er schien in sich zu ruhen, nicht meine Fürsorge und Beachtung zu brauchen. Das war mir neu am Manne, das tat mir sehr wohl, ich fühlte mich entlastet von meinem Anspruch, Aufmerksamkeit und Anerkennung geben zu müssen auf Teufel komm raus, immer für den Mann da sein zu müssen.
Zu Arnolds Äußerem nur so viel: Er wirkte sympathisch auf mich. Die Größe, ja, und die Figur, das passte. Weitere Einzelheiten nahm ich nicht wahr. Zumal es bald Abend wurde und dunkel im Garten. Da holte er seine Gitarre aus dem Auto und spielte: »Bridge Over Troubled Water«.
»Das war meine Lieblingsplatte«, freute ich mich, »ihre grüne Hülle ist schon ganz abgegriffen!«
Danach spielte er »Puff, the Magic Dragon« von Peter, Paul & Mary.
»Was, die kennst du auch?«
»Hast du die Platte mit dem roten Umschlag noch?«
»Ja, die hab ich!«
Lauthals sang ich seine Lieder mit, er die Oberstimme, ich die untere, das klang harmonisch, und er spielte sehr souverän.
Unsere Kinder, fast alle schon im Teenageralter, verstanden sich gut, man sah sie nur noch zu den Mahlzeiten.
Die anfängliche Anspannung war einer angenehmen Lockerheit gewichen. Schnell waren die Tage um.
In den Herbstferien besuchte Arnold mich wieder.
»Meine Töchter möchten gern nochmal mit deinen Kindern zusammen sein«.
Na klar, schmunzel.
Ich freute mich.
Auch, als wir uns das nächste Mal trafen, achtete ich sehr darauf, dass ich tat, was ich wollte – und keine Kompromisse einging. Ich war sehr mutig und probierte viele für mich wichtige neue Verhaltensweisen mit ihm aus. Und siehe da: Es passierte gar nichts Schlimmes. Er konnte alles akzeptieren, was ich wollte. Und blieb dabei ruhig, ging gar nicht in die Luft, er wirkte zufrieden, wenn er meine Wünsche erfragte und auf sie eingehen konnte. Für mich eine wirklich neue Erfahrung.
Als er wieder abgefahren war, rief ich verzweifelt meine Freundin Susanne an:
»Du, ich habe da einen netten Mann kennengelernt.«
»Ja, schön für dich. Was ist daran so schwierig?«
»Ich bin gerade so froh, dass ich von Gerhard weg bin, mit all dem Alkohol, schau ihn dir doch an, der hängt voll drin! Beinahe wär ich auch, du weißt ja …«
»Ja, mein Peter hat ihn letzthin besucht. Gerhard bechert immer wieder. Schafft schon mal ne Pause, aber dann trinkt er wieder bis zum Umfallen. Wir machen uns große Sorgen um ihn.«
»Und nun Arnold, so heißt er. Arnold trinkt gar keinen Alkohol, keinen Tropfen!«
»Sei doch froh!«
»Nein, er darf keinen trinken!«
»Warum nicht, ist er krank?«
»Kann man so nennen. Er war früher Alkoholiker. Hat ´n Entzug gemacht.«
Susanne lachte am anderen Ende der Leitung.
»Na, dann ist doch alles gut. Das hat er jedenfalls hinter sich!«
»Ich hab Angst!«, sagte ich. »In unserem Haus, überall stehen Flaschen herum, die Kinder gehen doch schon ›vorgeglüht‹, wie sie sagen, auf Trinkpartys, du kennst diesen eigenartigen Trend. Zusätzlich sind meine Kids es von Gerhard so gewohnt, da nimmt sich keiner zurück!«
»Dann ist dieser Arnold für dich eine Riesenchance! Dass deine Kinder sehen, es geht auch ohne Alkohol!«
»Meinst du wirklich, dass wir das schaffen? Ich hab solche Angst!«
»Na, du bist ja noch lange nicht mit ihm verheiratet! Kannst es ja mal austesten, wie er damit umgeht. Dann musste halt die Bratensoße für ihn mal ohne Rotwein machen!«
Liebe Vroni, erinnerst du dich an Susanne? Sie trifft immer den Nagel auf den Kopf, dafür schätze ich sie sehr.
Arnold lud mich ein, mit ihm eine gemeinsame Woche an der Nordsee zu verbringen. Nordsee! Da rannte er bei mir offene Türen ein. Ich hatte schon in der Jugend gerne Bücher gelesen, die an der Nordsee spielten. Gerhard zog es aber nie in das raue Nordseeklima, immer nur in den Süden.
Arnold wollte sich bei der Auswahl der Ferienwohnung an meine Vorgaben halten: Bitte getrennte Wohnbereiche! Getrennte Zimmer sowieso! Und er fand tatsächlich eine solche. In Ostfriesland, in Bensersiel.
Wieder gelang es ihm, meine Wünsche vollkommen zu erfüllen. Die Wohnung setzte sich zusammen aus drei gut getrennten Teilen. Der Mittelteil bestand aus Küche und Wohnzimmer, von dort aus ging es links in meinen Flügel, rechts in seinen.
Es war einfach, mit Arnold eine Einigung zu finden. Über die Essensauswahl, wer wann was kochte, über den Zeitpunkt, wann wir einen Nordseespaziergang machten, wann wir uns zu einer geführten Wattwanderung anmeldeten, oder wann ich joggen wollte, und dies spontan barfuß tat – während er meine Turnschuhe den Strand entlang transportierte.
Sogar, als er sich über mein »Gummistiefelgebaren« sehr wunderte, wie er es am nächsten Tag augenzwinkernd nannte, ließ er mich tun: Ich wollte zu jeder Minute sicher sein, jederzeit abreisen zu können. Nein, nicht mal meine Gummistiefel wollte ich über Nacht bei ihm im Auto stehen lassen. Nichts. Meins! Deins! Das war mir so wichtig geworden! Und er konnte das akzeptieren, obwohl er sich darüber sehr wunderte, wie er mir später erzählte. Für mich war es eine weitere Bestätigung: Ja, ich darf frei sein bei ihm, und er lacht mich nicht aus mit meinen Unabhängikeitsbedürfnissen, mögen sie ihm auch noch so übertrieben erscheinen.
Als er dann auch noch abends seine Gitarre zur Hand nahm und mir romantische Lieder vorsang, fing ich zu träumen an – böse Menschen haben keine Lieder. Ich fand wieder Zutrauen zur Spezies Mann – und ließ mich von ihm zärtlich berühren. Wie gut mir seine ruhige streichelnde Hand tat!
»Brauchst nichts sagen, Papa, ich weiß, was los ist!«, empfing uns seine große Tochter Frauke, als wir gemeinsam an seiner Wohnung in Oldenburg Halt machten und sie seine strahlenden Augen sah.
Ja, wir hatten uns aufs Glatteis gewagt und uns verliebt.
Und nun?
Er in Niedersachsen ganz oben, ich in Bayern ganz unten. Achthundert Kilometer!
Sehnsucht! Wie zu Teenagertagen erster Verliebtheit. Ich will zu dir! Wann kannst du kommen? Kann ich zu dir? Noch fünf Tage! (Das war ich.) Noch sechsundneunzig Stunden. (Das war Arnold, der immer sehr exakt denkt.)
Alle vierzehn Tage kam er nach München, oder ich fuhr zu ihm. Kaufte mir extra einen Koffer für die weiten Bahnreisen.
Ein halbes Jahr nach unserer Nordseezeit suchte Arnold Arbeit in München – und fand eine Anstellung, obwohl schon 54.
»Und du ziehst nicht nur wegen mir so weit weg von deiner Familie? Ich könnte diese Verantwortung nicht aushalten!«.
Ich hatte große Befürchtungen.
Aber er sagte:
»Nein, das werde ich dir niemals vorhalten, egal, wie es mit uns weitergeht!«
Liebe Vroni, wie wär’s dir gegangen? Hättest du das geglaubt, ganz ehrlich? Ich hatte die Sorge, mit seinem so weiten und aufwändigen Umzugsakt erpressbar zu sein. Dass er Gefügigkeit einfordern könnte. Wenn ich dies auf mich nehme, dann musst du dafür …
Hättest du auch so wie ich gedacht? Oder hättest du seinen Herzug gar als Selbstverständlichkeit angesehen? Oder als Ehre für ihn? Es gibt so viele unterschiedliche Sehensweisen auf der Welt.
Für mich war das eine sehr wichtige Frage gewesen.
Niemals wäre ich von meinen Kindern weggezogen, obwohl sie schon so groß waren und obwohl sie bei Gerhard hätten bleiben können. Nein, wir, meine Kinder und ich, hatten uns doch gerade erst neu aufeinander eingespielt und in unserem zauberhaften Heim neue Freiheiten gefunden und genossen.
Nun gut, ich glaubte ihm.
»Meine Töchter haben bisher nur am Wochenende bei mir gelebt. Sie können weiterhin bei Ingeborg bleiben, sie und ihr Freund Björn haben genug Platz. Sie wohnen in einem großen Haus auf dem Land in Hannover, das lieben sie. Dort können sie wie bisher ihre Schule besuchen. Ohnehin wird Frauke bald ihr Abitur machen.«
»Werden sie dir nicht fehlen?«
»Natürlich werden sie mir fehlen! Ich werde einmal im Monat hochfahren und sie bei Ingeborg besuchen, in ihrem Haus kann ich auch schlafen, wenn dir das nichts ausmacht?«
Wie wärst du damit umgegangen, Vroni?
Ich jedenfalls war nicht ganz frei von Eifersucht. Doch meine pragmatische Seite sagte: Alles geht nun mal nicht. Nimm die Herausforderung, Vertrauen zu haben, an.
Langer Rede kurze Raffung:
Er nahm sich eine Wohnung in München. Ich wohnte weiter mit meinen Kindern in Straßlach.
Bei mir konnte ich ihn keinesfalls wohnen lassen. Wir kannten uns doch erst wenig!
Schließlich haben wir uns einige Jahrzehnte in ganz unterschiedlichen Systemen bewegt, nicht nur regional. Haben unterschiedliche Einstellungen zu vielen Dingen gewonnen, sehr unterschiedliche Gewohnheiten und Denkweisen entwickelt.
Gravierend, zum Beispiel: Er war immer Angestellter gewesen, doch ich war zeit meines Lebens selbständig tätig. Was allein das schon mit uns macht, über die Jahre!
Vielleicht hast du schon neugierig in den Mailanhang geschaut und das Foto gesehen. Ja, wir haben uns getraut! Sind wir nicht schön?
Der junge Mann hinter uns, der über meinem Kopf mit dem Finger »Hasenohren« zeigt, ist Raffael, mein Jüngster, der damals – weißt du noch! – mit deinem Timmy im Kindergarten war.
Auf dem anderen Foto siehst du, wie alle meine vier Kinder auf unserer Hochzeit ein Theaterstück aufführen. Das Wort »Kinder« ist nicht mehr so zutreffend, nicht wahr…
Links, der mit dem Bart, ist Markus, der Zweitgeborene, und der langhaarige junge Mann ohne Bart ist Dominik, mein Ältester. Dann siehst du meine Tochter Lisa, die mit deiner Melinda in den Reitunterricht gegangen ist. Daneben nochmal Raffael.
Arnolds Töchter haben gemeinsam einige Shanty-Lieder vorgetragen, so wie sie es in ihrer nordischen Familie praktiziert hatten. Von Papas Stimme und Gitarre begleitet. Die Mädels haben so schöne, sichere Sopranstimmen!
Ja, so war das.
Ob ich jetzt glücklich bin?
Was für ein großes Wort. Wie kann man mehr als einen Moment glücklich sein! Eher würde ich gerne sagen: Ja, ich bin sehr froh, es geht mir sehr gut. Das Leben ist schön. Ich liebe mein Leben.
Ich bin ich.
Ja, ich liebe mein Leben!
Und ich bemerke im Lauf der zehn Jahre, die Arnold und ich zusammen sind, wie sich meine rosa mit Arnolds hellblauen Gedankenteilchen mischen und seine »hellblauen« mit meinen »rosafarbigen«. Wie sich unsere gemeinsame Schnittmenge stetig vergrößert. Und das Beste ist: Ich kann das zulassen. Er sowieso. Er muss sich nicht so abgrenzen, wie ich das noch dringend brauchte.
Irgendwann werden sich die zwei Gedankenkreise mit den rosa und hellblauen Eigenheiten wohl so übereinanderlegen, dass es nur noch einen Kreis gibt, in dem gleich viele rosa und blaue Teilchen herumschwirren. Dieses Bild erzeugt in mir Ruhe. Das Streben nach gutem Einvernehmen bedeutet für mich: endlich nicht mehr so viele verletzende Streitereien.
Meine liebe Vroni, ich hoffe, dass ich dir mit meiner Erzählung Mut machen kann. Was lange währt, wird endlich gut. Es bleibt nicht so hässlich im Leben, wie es bei dir gerade ist. Ich habe vor kurzem ein Graffito gelesen: »Wer am Ende ist, kann wenigstens neu von vorn anfangen.«
Ich umarme dich und freue mich, wieder von dir zu lesen. Drück auch Melinda und Timmy von mir, wenn du sie mal wieder siehst!
Sabine
PS:
Ein Beispiel noch zu den eben beschriebenen Gedankenkreisen:
Im Straßenverkehr.
Wie viele Strafzettel habe ich schon bekommen und bezahlen müssen, weil ich gerne schnell fahre, immer schneller als erlaubt. Es fällt mir ungeheuer schwer, mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten.
Arnold dagegen hielt sich immer, wirklich immer, ganz genau daran. In geschlossenen Ortschaften: exakt fünfzig. An Autobahn-Baustellen: exakt sechzig. Im Ausland: exakt hundertzwanzig.
Natürlich fand ich meine höhere Geschwindigkeit nie wirklich falsch, und manchmal belächelte ich seine Genauigkeit im Umgang mit Vorgaben und Regeln. Doch machte das was mit mir. Schließlich genieße ich seine verlässlich saubere Denke. Und ertappe mich dabei, wie ich mittlerweile (fast) so fahre, wie es das runde Schild mit dem roten Rahmen von mir möchte.
Arnold dagegen hat inzwischen schon zwei Strafzettel bekommen und ist mächtig stolz darauf.