Über ein Keyboard und „Große Brocken zuerst“

    Ich war schon weit über fünfzig, als Mimi und ich den Deal hinbekamen: Immer nach unserer gemeinsamen wöchentlichen Stunde im Fitnesscenter kommt sie zu mir und bringt mir am Keyboard, das für die Kinder angeschafft worden ist und das noch in unserem Wohnzimmer steht, das Spielen bei. Wie mir das Spaß machte! Mir, die zwar musikalisch ist, jedoch nie ein Instrument gespielt hat und folglich die Notensprache nur rudimentär beherrscht. Mimi, die eine Musikschule für Kinder betreibt, besorgte mir ein Lehrbuch für erwachsene Anfänger und brachte mir in jeder Stunde eine neue Lektion bei. Und ich? Ich machte begeistert meine Hausaufgaben und übte konsequent auf die nächste Zusammenkunft hin. Zwei Jahre lang.

    Dann kam ihre Scheidung. Mimi war nur noch mit sich selbst beschäftigt und damit, ihre zwei Kinder zu versorgen. Die dreißig Kilometer aus dem Münchner Umland bis zu unserer Sportstunde und zu mir brachte sie nicht mehr unter. „Du bist ja schon ziemlich weit am Keyboard, du kannst allein weiterlernen, das schaffst du!“, sagte sie, und sie meinte es auch so.

    Was soll ich sagen, ich tat es nicht. Über die Jahre vergaß ich auch noch die gelernten Akkorde, und immer wenn ich mich überwand und mich wieder ans Keyboard machte, die Lehrbücher gesucht und gefunden hatte, mir aufwändig die Hockerhöhe zurechtgedreht, mich daran erinnert hatte, wohin ich die Akkordtabelle gesteckt hatte und mich wieder weit vorne in den Büchern eingespielt hatte, da ebbte schon wieder die Konzentration ab. Dabei war ich doch auch diesmal in den Flow gekommen! Ja, es machte mir auch jetzt riesigen Spaß!

    Heute werde ich erneut an dieses schöne, befriedigende Gefühl beim Spielen erinnert, weil Mimis Geburtstag im Kalender steht.

    Plötzlich bin ich hellwach. Moment mal! Habe ich nicht in aufwändigen Lebenslektionen gelernt, dass die eigenen Freuden und Bedürfnisse das Wichtigste auf der Welt sind? Dass diese als erste, als die großen Brocken, ins Glasgefäß kommen? Weil Kieselsteine und Sand sich ohnehin aus dem Alltag rekrutieren und den Platz im Glas wegnehmen möchten. Je mehr Platz im Glas, desto mehr unwichtiger Sand passt hinein.

    Und jetzt los! Ich setze eine Notiz in den Kalender. Für heute. Gleich heute Nachmittag: Eine Keyboard-Lehrerin suchen. Und dann rufe ich Mimi an, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren.

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