Über Gefühle

    Es gab eine Zeit in meinem Leben, da hatte ich bereits zwei Jahrzehnte praktiziert, was ich auf der Schule gelernt hatte: Alles rational begründen, diskutieren, Argumente liefern, meine Handlungen erklären können. Funktionieren eben. Ich weiß nicht, ob es auch anderen so ging und ob das heutigen Menschen, mit all dem neuen Wissen aus der Gehirnforschung, immer noch passieren kann: dass Gefühle als Weggefährten zweiter Klasse gelten.

    Ich jedenfalls war damals unvermittelt an einen Punkt gelangt, wo all das Begründen nicht mehr funktionierte, wo ich nicht mehr funktionierte. Und ich mich erst in einer verzweifelten Situation gezwungen fühlte, den Anstoß einer Freundin umzusetzen: Gefühle zu benennen.

    Ja, tatsächlich, ich saß an meinem Schreibtisch und listete mögliche Gefühle auf. Heute würde ich googeln, damals war ich auf meine eigenen Schlagworte angewiesen: Liebe und Hass, ja, das war noch einfach. Und dann schrieb ich nach und nach nieder: Sehnsucht. Heimweh. Traurigkeit. Enttäuschung. Einsamkeit. Sympathie. Ärger. Wut. Angst. Hilflosigkeit. Neid. Scham. Vertrauen. Leidenschaft. Mut. Anerkennung. Freude. Ich brauchte dafür einige Tage. Es fiel mir schwer, Begriffe zu finden.

    Sollte ich jemals auf dem Gymnasium etwas über Gefühle gelernt haben, so hatte ich es jedenfalls im Trubel des Karriereaufbaus, begleitet von der Familienphase, längst vergessen oder verdrängt.

    Heute weiß ich – und ich möchte es nie mehr missen, obwohl es ebenfalls in die Schublade rationalen Wissens gehört –, dass es Gefühle sind, die jeglicher Motivation für jedwedes Tun zu Grunde liegen, und je mehr wir uns unserer Gefühle bewusst sind, desto mehr können wir auch unser Leben steuern und Entscheidungen bewusster treffen.

    Die folgende Ergänzung meiner obigen Auflistung kann in der großen Welt der angenehmen und unangenehmen Gefühle nur eine kleine Anregung sein, sich mit sich selbst und den eigenen Motivatoren zu beschäftigen, und dann: Her mit dem schönen Leben!

    Eifersucht, Mitleid, Ironie, Humor, Spaß, Liebeskummer, Schuld, Gewissheit/Ungewissheit, Glück, Ekel, Gerechtigkeit, Freundschaft, Depressivität, Sorge, Langeweile/Spannung, Sexuelle Lust, Erleichterung, Schmerz, Gelassenheit…Wie oft reagierst auch du unbedacht und impulsiv ganz einfach aus den genannten Beweggründen? Wer über seine Gefühle auch noch redet und sich damit selbst offenbart, öffnet zudem, laut Friedemann Schulz von Thun, Tür und Tor zu einer guten Kommunikation – als Grundlage für Verständigung schlechthin.

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